Vom Glück des Singens in der Pandemie

von Christiane Schwarte

Der Philharmonische Chor Berlin bei seinem Konzert am 25. Oktober 2020 in der Berliner Philharmonie. © Dominik Grobien

Jetzt sitze ich also wieder da: im Homeoffice. Das Highlight des Tages ist der Gang zum Supermarkt – neuerdings mit FFP2-Maske. Es ist Freitag. Der Freitag ist normalerweise ein „heiliger Tag“. Am Abend läutet die Tutti-Probe das Wochenende ein. Wie sehr liebe ich diesen Wochenausklang, das Singen natürlich, die Freunde, den Absacker beim Griechen. Aber daran denke ich lieber nicht. Ich versuche, es auszublenden. Stumpf die Zähne zusammenzubeißen und an das Licht am Ende des nicht enden wollenden Tunnels zu glauben.

Vor etwa einem Jahr fand unser letztes „reguläres“ Konzert statt. „Ruth“ für Soli, Chor und Orchester von Georg Schumann. 1908 geschrieben, ein „Gebilde von wahrhaft berauschender Klangschönheit“, wie es in einer zeitgenössischen Kritik hieß. Nach der alttestamentlichen Ruth, eine „bewegende Geschichte weiblicher Kraft“, sagt unser Programmheft. Wir standen dicht gedrängt in der Konzerthalle C.P.E. Bach in Frankfurt (Oder), schwitzten und schmetterten „Wir Wichte, wir rasen im Dunkel der Nacht“ oder „Mädchen, wend‘ Dich, flieh‘ und geh‘! Störst den Schläfer, hehehe…“ Ich stand in der letzten Reihe, zwischen Bibi (Supersopran) und Johannes (Supertenor). Es läuft mir eiskalt über den Rücken, wenn ich heute die Noten durchblättere und die Melodien wieder in mein Ohr kommen. Es war ein großartiges Stück und eine Aufführung wie im Rausch, so schön, ich habe jede Sekunde genossen.

Kurz danach bekam ich Halsschmerzen und leichten Husten. Die Aufführung in der Philharmonie sollte am Mittwoch danach stattfinden, am 11. März. In die Hauptprobe am Montag habe ich mich noch geschleppt. Ich wollte es nicht wahrhaben, nicht mitsingen zu können. Ich sehe mich noch am Bahnhof Friedrichstraße stehen und überlegen. Links rum (= Chorprobe) oder rechts rum (= nach Hause)? Ich habe mich für Links entschieden und eine Aspirin eingeworfen. Das Corona-Virus war schon aufgetaucht, aber niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt das Ausmaß der Erschütterung. Trotzdem habe ich mich im Rückblick vielfach gefragt, wie ich das machen konnte? Ich wurde in den Tagen danach richtig krank. Wie ich später durch einen Antikörpertest erfahren habe, war es zum Glück kein Corona. Aber ich konnte es nicht wissen. Und bin trotzdem hingegangen. Heute, ein Jahr klüger, würde ich das niemals mehr tun.

Die Generalprobe für „Ruth“ in der Philharmonie wurde abgesagt, es war der Tag des ersten Kultur-Lockdowns in Berlin, der 10. März 2020. Für kaum ein Stück in den letzten Jahren hatten wir so intensiv geprobt, es war ein besonderes Herzensanliegen unseres Dirigenten Jörg-Peter Weigle, der mit diesem Stück vor 18 Jahren sein Debut beim Philharmonischen Chor hatte. Das Konzert in Frankfurt (Oder) war richtig gut, wir hatten es wirklich drauf (sag ich mal in aller Unbescheidenheit). Wie wäre es erst in der Philharmonie geworden? Am Tag vor der Aufführung eine Absage zu kassieren – das war sehr, sehr hart, fast ein traumatisches Erlebnis für den Chor. Während des Einsingens erreichte den Vorstand die Nachricht. Verzweifelte SMS und WhatsApp-Nachrichten trafen mich auf dem heimischen Grippe-Sofa, später auch Anrufe. Tränen sind geflossen, schweigend ging man auseinander. Das war erst der Anfang. Und wenn man uns damals gesagt hätte, wie es weitergeht – ich glaube, wir wären durchgedreht.

Von jetzt auf gleich also kein Konzert. Keine Proben mehr. Absage einer lange geplanten Konzertreise nach Schweden. Absage des nächsten Konzertes. Es wurde März, April und Mai… Ab und zu haben wir uns in Videokonferenzen zusammengeschaltet, aber schnell war klar, dass Chorproben per Zoom keine Alternative für uns sein würden.

Sängerin im Kloster Chorin

Dann hat der Vorstand eine wundervolle Möglichkeit für ein Wiedersehen geschaffen. Ende Juni fuhren wir mit Bus und Bahn nach Kloster Chorin, erhielten eine Führung und durften dann in der Klosterruine……singen! Nach Monaten wieder zusammen zu sein, den Klang des Chores zu hören, die eigene Stimme und die des Nachbarn, das hat vielen von uns die Tränen in die Augen getrieben. Es waren bewegende zwei Stunden, nur wir: Chor, Dirigent, ein paar Angehörige und Touristen, die zufällig dazu gestoßen sind und sich leise auf den Boden oder an den Rand gesetzt haben, um diesen besonderen Moment zu genießen. Wir haben Rheinberger gesungen und Bach, gemischt gestellt, an verschiedenen Positionen die phantastische Akustik des Raumes erlebt. Ich glaube, jeder, der dabei war, hat in diesen kurzen Momenten wie im Brennglas gespürt, wie sehr es uns gefehlt hat: das Singen, das Zusammensein, die Musik. Der Klang in dieser Klosterruine war berührend. Wer es bis jetzt noch nicht wusste, hat in dem Moment begriffen, was für ein Geschenk es ist, in einem so besonderen Chor zu singen.

Es folgten weitere Monate bangen Wartens, diesmal immerhin im Sommer, der ja für viele wieder etwas Entspannung gebracht hat (und ein paar schöne Treffen in verschiedenen Biergärten). Und endlich das lang ersehnte Signal: Das Herbstkonzert kann stattfinden! Proben in kleinen Formationen – Montagschor, Dienstagschor, Freitagschor – und ganz zum Schluss dann gemeinsam: Rheinbergers „Tribulationes“, das Fauré-Requiem und seine „Cantique de Jean Racine“ am 25. Oktober 2020 in der Philharmonie.

Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich im September nach einem ¾-Jahr zum ersten Mal wieder vor unserem Probenort, der Clara-Grunwald-Schule in Kreuzberg, stand. Meine liebe Nachbarin im Alt, Anne, habe ich vor der Tür getroffen. Wir wollten uns um den Hals fallen, so happy waren wir. Da wir das ja nicht durften, haben wir immerhin ein Foto gemacht, um diesen Moment für uns festzuhalten. Die Proben in den kleinen Gruppen waren von Anfang an etwas sehr Besonderes. Ein strenges Hygienekonzept war verschickt worden. Aufgang nur von einer Seite, natürlich mit Maske. Im Raum die Maske anbehalten, bis man sitzt, und die Probe beginnt. Zwei Meter Abstand der Stühle in alle Richtungen. 15 Minuten Lüften nach dreißig Minuten Probe. Nach der Probe: Stühle desinfizieren. In der Pause: Maske tragen. Dicke Jacken und Schals tragen, weil der September bei offenen Fenstern schon ziemlich kühl war. Wir waren top diszipliniert, denn eines wollte niemand: durch eine Infektion bei den Proben das Konzert gefährden.

Die Proben waren das Highlight der Woche. Und Herr Weigle hat uns gefordert wie nie. Jeder saß gefühlt direkt vor seiner Nase. Wenn die eigene Stimme nur mit drei bis fünf Personen besetzt war – was soll man auch machen, als Stoff zu geben. Zwischendurch hat er uns angetrieben: der Dienstagschor, Freitagschor, Montagschor war jeweils viiiieeeel besser. Das wollten wir natürlich nicht auf uns sitzen lassen. Ich glaube, ich kann für die allermeisten sagen: Diese Proben haben jeden einzelnen von uns nicht nur ganz besonders gefordert, sondern auch enorm weitergebracht. Es war fast wieder wie beim Vorsingen. Man hatte das Gefühl, solistisch gefordert zu sein.

Probe und Danksagung in der Philharmonie

Dann näherte sich der Aufführungstermin – und die Corona-Zahlen stiegen wieder. Jeden Tag ein banger Blick auf die RKI-Seite. Der nächste Lockdown stand quasi im Raum. Würde es uns wieder ein paar Tage vor der Aufführung erwischen? Doch wir hatten großes Glück. Drei Tage Proben und die Aufführung fanden statt. Insgesamt vier Tage singen in der Philharmonie! In dieser phantastischen Akustik! Man hat nur sich gehört und vielleicht noch den Nachbarn oder die Nachbarin. Was für ein großes Geschenk, diese Tage erleben zu können! Mit viel Disziplin von allen Seiten und einem immens großen Aufwand von Seiten des Vorstands, dem ich an dieser Stelle auch nochmal sehr herzlich danken möchte. Diesen Dank haben wir in der Philharmonie durch rote Rosen zum Ausdruck gebracht (siehe Foto). Besonders gilt dieser für unseren Dirigenten Jörg-Peter Weigle, der uns mit ganz viel Ruhe, Führung, Konzentration und Flexibilität durch diese Probenphase getragen hat. Heraus gekommen ist nach allgemeiner Einschätzung kein „Notkonzert“, sondern ein ganz besonderes Musikerlebnis für Sänger und Publikum. „Zwischen Himmel und Menschen vermitteln“, hat Jens Lehmann seine Einführung in das Konzertprogramm überschrieben. Genauso fühlte es sich an.

Wie dankbar können wir sein, dass dieses besondere Konzert im Jahr 2020 stattfinden konnte. Wie dankbar werden wir sein für alles, was 2021 möglich ist.