,Musikalische Friedensforderung‘

Roland H. Dippel, Neu Musikzeitung

Emil Nikolaus von Rezniček
Frieden – Eine Vision für Chor, Orgel und Orchester

Gioachino Rossini
Stabat Mater

philharmonie berlin
18. Oktober 2023

Leitung  Jörg-Peter Weigle

Musikalische Friedensforderung von 1915: Der Philharmonische Chor Berlin entdeckt Reznicek

Ambitioniertes Projekt: Der Philharmonische Chor Berlin brachte in seinem 1. Abonnementskonzert am 18. Oktober das von ihm 1915 uraufgeführte Chorwerk „Frieden – eine Vision“ von Ernst Nikolaus von Reznicek. Jörg-Peter Weigle dirigierte die spannende Wiederentdeckung der traditionsreichen Chorvereinigung, es spielte das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt. Vor Gioachino Rossinis „Stabat mater“ machte „Frieden – eine Vision“ in der Berliner Philharmonie auch aufgrund der aktuellen Situation großen Eindruck.

Nach der gleichgültig aufgenommenen Uraufführung am 14. Januar 1915 in der Alten Philharmonie Berlin konnte sich der Verlag Bote & Bock nicht zum Druck des halbstündigen Werkes „Frieden – Eine Vision“ entschließen. Die handschriftliche Partitur des vor allem durch die Ouvertüre zu seiner Oper „Donna Diana“ bekannten Ernst Nikolaus von Reznicek (1860 bis 1945) wurde im Zweiten Weltkrieg vernichtet. Das Werk galt als verloren, bis 2016 eine Abschrift im Archiv des Chicago Symphony Orchestra entdeckt wurde. Dessen Chefdirigent Frederic Stock hatte es 1922 zur Ansicht bestellt, allerdings nicht aufgeführt.

Die für 2022 geplante Aufführung von „Frieden – Eine Vision“ durch den Philharmonischen Chor Berlin zerschlug sich wegen der Pandemie. Ursprünglich sollte – wie zur Uraufführung – Anton Bruckners Messe f-moll auf das Programm gesetzt werden. Michael Wittmann, Herausgeber der Editio Reznicek, hielt die Kombination mit Rossinis „Stabat mater“ für legitim, weil Reznicek gern Werke Rossinis dirigierte.

Der von Reznicek selbst geschriebene Text zu „Frieden – Eine Vision“ entstand nach einem Traum kurz vor Weihnachten 1913. In diesem sah Reznicek einen Soldaten, der sich kurz vor seinem Tod in eine Friedensvision verspinnt. Reznicek vollendete Text und Komposition am 20. April 1914, bei der vom Komponisten dirigierten Uraufführung hatte der Erste Weltkrieg bereits begonnen. Die Partitur entstand zwischen Rezniceks symphonischem Gedicht „Der Sieger“ (1913) und dem Chorwerk „In memoriam“ (1915).

Der Aufbau folgt – weitaus nobler und weniger plärrig als Richard Strauss’ Oper „Friedenstag“ (München 1938) – dem Topos „Durch Bedrängnisse zu den Sternen“. Am Beginn raunen düstere Streicher, Seufzer der Holzbläser mischen sich darunter. Im zweiten Teil tritt der Chor hinzu. Bis zu den finalen Versen „Lasst uns den Frieden! Wir wollen den Frieden!“ lichtet und füllt sich Rezniceks Orchestersatz mit üppiger Dur-Diatonik und klarer, fast volksliedhafter Hymnik. Der dichte Instrumentalsatz steigert die Wirkung indes fast rauschhaft. Dabei steht Reznicek eher bei den liedhaft gestaltenden Spätromantikern wie Humperdinck als bei den Vordenkenden Richtung der Moderne und sich auflösenden Formen. Weigle, der Chor und das Orchester gestalten den Bogen vom Gräulichen ins Licht, die Mahlerhaft fernen Militärkapellen-Pfiffe und Rezniceks eindrucksvolle Klangpalette erst mit Sorgfalt, später mit gelockerten Zügeln. Den Versen „Reicht dem Feind die Freundeshand“ stehen im Mittelteil fast martialisch gleißende Choreinsätze gegenüber. Insgesamt ein beeindruckendes Werk, das Furcht und Hoffen mit einem großen, in einigen Momenten auch geharnischten Klangkosmos einfängt. Das Staatliche Orchester Brandenburg vereint Präzision und homogene Fülle.

Erstaunlich, dass sich so viele Chöre für Rossinis „Stabat mater“ begeistern. Zwischen dessen großen, vom Philharmonischen Chor mit erlesener Schönheit vorgetragenen Rahmensätzen dienen die Chorpartien hier vor allem als Vorbereitungen zu Rossinis im Stil seiner letzten Pariser Opern gestalteten Solistenpartien. Weigle kehrt allerdings mehr die Stellen heraus, in denen der ganz späte Rossini den späteren Verdi vorwegnimmt. Einen idealen Basso cantante zeigte Artur Janda. Aleksandra Kubas-Kruk hatte das passende Leuchten im edlen Engelssopran. Der kurzfristig eingesprungene Shimon Yoshida nahm das berühmte Tenor-Solo „Cujus animam gementem“ mit feinem Leichtgewicht, Niina Keitel ergänzte zuverlässig. Es überraschte also nicht, dass dem gerne Belcanto-Futter goutierenden Berliner Publikum der zweite Konzertteil genauso gefiel wie Rezniceks dramatische Friedensforderung.

Deutschlandfunk Kultur sendet den Mitschnitt des Konzerts voraussichtlich am 9. November 2023.

Neue Musikzeitung, 19. Oktober 2023