Interview Jörg-Peter Weigle
Christiane Peitz, Tagesspiegel
Dirigent Jörg-Peter Weigle: „Chorgesang ist Gesellschaft“
Über zwei Jahrzehnte hat er den Philharmonischen Chor Berlin geleitet: Jörg-Peter Weigle ist ein passionierter Chor- und Orchesterdirigent. Ein Gespräch vor dem Abschiedskonzert, über das Politische im Gesang.
Herr Weigle, Sie leiten den Philharmonischen Chor Berlin seit 22 Jahren und haben zahlreiche Chöre dirigiert, seit Sie als Junge beim Leipziger Thomanerchor sangen. Chöre sind beliebter denn je, allein in Berlin gibt es etwa 2500. Warum ist das so?
Chöre gehören zur Kultur wie die Luft zum Atmen. Womit wir schon beim zweiten Grund sind: Man braucht nur einen Hals und den eigenen Atem, schon lassen sich Emotionen mitteilen. Singen ist die einfachste Möglichkeit, Musik zu machen.
Es muss nicht gleich Kunst sein, fördert aber das Wohlbefinden. Hinzu kommt das gute Gefühl der Gemeinschaft im Chor. Gleichzeitig kann er der Gegenwart den Spiegel vorhalten, die Nervositäten und Ängste zum Ausdruck bringen. Chorgesang ist Gesellschaft.
In einem Podcast des Philharmonischen Chors sagen Sie, im Musikalischen finde man neben den Problemen von heute auch Lösungsansätze. Wie meinen Sie das?
Wir klagen darüber, dass unsere Gesellschaft zerstritten ist, dass jeder Recht behalten will. Nehmen Sie nur die „Turba“-Chöre von Bachs Johannespassion, da kann man hören, wie unheilvoll es ist, wenn jedes Lager auf dem eigenen Standpunkt beharrt. Im Chorgesang stellt sich dann die Frage nach dem gemeinsamen, übergeordneten Ziel. Was muss ich mit dem Nachbarn verhandeln, damit wir ein gutes Miteinander haben?
Chöre als Mikrokosmos der Gesellschaft, in dem die verschiedenen Stimmen Einigkeit erzielen, ohne ihre Individualität aufzugeben?
Ich habe das schon als Kind im Thomanerchor erlebt. Da sitzt dieser Typ mit der Traumstimme neben dir, man ist ganz neidisch auf ihn. Aber dann sagt der Dirigent zu ihm: Du bist zu laut. Und zu mir sagt er, ich soll mich nicht so zurückhalten. Mein Nachbar wird den Gesamtklang prägen, aber wir anderen müssen mitmachen, sonst glänzen wir alle am Ende nicht.
Wegen der Gleichschaltung in der NS-Zeit waren Chöre in Deutschland in Verruf geraten. Theodor W. Adorno misstraute ihnen als Teil der Massenkultur.
Das spielt heute keine Rolle mehr, denn wir leben in einer sehr vereinzelten Gesellschaft mit 82 Millionen Individualisten. Wenn alle aneinander vorbeilaufen und sich nach Gemeinsamkeit sehnen, sind Chöre ein gutes Korrektiv.
Zur Person
Der Dirigent Jörg-Peter Weigle, 1953 als jüngstes von sechs Pfarrerskindern in Anklam geboren, leitet den Philharmonischen Chor Berlin seit 2003 und das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt (Oder) seit 2018. Hier wie dort hört er im Sommer auf. Zuvor leitete er u.a. den Rundfunkchor Leipzig und die Stuttgarter Philharmoniker, von 2001 bis 2018 unterrichtete er an der Musikhochschule Hanns Eisler, deren Rektor er auch zeitweise war und an der er studiert hat.
Der Philharmonische Chor befindet sich an der Schnittstelle zwischen den Berliner Profi-Ensembles, also dem Rias Kammerchor und dem Rundfunkchor, und der Vielzahl der Laienchöre. Was zeichnet ihn aus?
In letzter Zeit sind vor allem kleine Ensembles entstanden, vom Oratorienchor in der Tradition der Romantik wandte man sich zunehmend ab. Aber ich hatte immer Lust auf den großen Chor. Davon gibt es schon deshalb nicht viele, weil sie teuer sind, erst recht, wenn sie mit Orchester auftreten.
Der Philharmonische Chor ist ein starkes Ensemble mit geschulten, vielseitigen Stimmen, die alles machen können, von zeitgenössisch gefächerten Klängen über die große Romantik bis zum Bach-Choral. Und ich kann gar nicht genug die Wichtigkeit der Förderung durch den Senat hervorheben. Die gesamte Berliner Chor-Szene ist dank der Förderung gut aufgestellt.
Von den drastischen Kulturetat-Kürzungen blieben sie weitgehend verschont.
Vielleicht hat das mit der Corona-Zeit zu tun. Anfangs wurden die Chöre wegen der aspiratorischen Vorgänge extrem kritisch beäugt und für gefährlich erklärt…
… es ging um Tröpfchenübertragung, um die Aerosole.
Mit dem damaligen Kultursenator Lederer waren wir jedoch im engen Austausch und nahmen an einem Feldversuch der Charité teil, die erforscht hat, wie viele angebliche Schadstoffe eine Laien-, eine Profi- oder eine Kinderstimme produziert. Die Kulturpolitik hat das eng begleitet und gesagt, wenn was Gutes rauskommt, dann unterstützen wir Euch. Genau das geschah dann. Lederer wollte das Gemeinschaftliche fördern bzw. die Nachteile des Singens während Corona mildern.
Wenn alle aneinander vorbeilaufen und sich nach Gemeinsamkeit sehnen, sind Chöre ein gutes Korrektiv.
Sie führen vor allem geistliche Musik auf, Messen, Requiems, Passionen, Oratorien. Wozu brauchen wir Sakralmusik in Zeiten der Kirchenkrise?
An den Kirchenaustritten ist bestimmt nicht die Kunst schuld. Ich glaube, dass das, was die Religionen uns über die Jahrtausende vermittelt haben, in den Grundfesten nicht falsch ist. Mit diesen Grundfesten befassen sich die Stücke, die wir singen, und wir singen in der Philharmonie und nicht im sakralen Raum.
Wir vermitteln keine christlichen Botschaften, eher so etwas wie Orientierung. Bei allen negativen Seiten sind Religionen doch Systeme, in denen Regeln fürs Zusammenleben entwickelt wurden, und dafür, was recht und unrecht ist. Man muss nicht an die Erlösung glauben, aber vielleicht ja an die Verständigung darüber, wo es lang gehen soll.
Hat Ihre Herkunft als Pastorensohn aus Anklam Ihre Arbeit geprägt?
Oh ja. Als Pfarrerssohn hatte man es nicht leicht in der DDR, ich kam früh mit Repressionen in Berührung. Mein Vater schickte mich in den Thomanerchor, weil er befürchtete, dass ich nicht auf die Oberschule darf, wenn ich nur in Anklam in der Kirche singe. Bei den Thomanern zu singen, galt als gesellschaftliche Arbeit, sie war hoch anerkannt. Was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass ich Abitur machen kann.
Und die religiösen Texte, mit denen Sie aufwuchsen?
Die haben mich eine Zeitlang weniger interessiert. Als ich im Studium die ersten Messen dirigierte, stellte ich jedoch fest, dass Franz Schubert im Glaubensbekenntnis entscheidende Sätze einfach weglässt, etwa den vom Glauben an die allumfassende Kirche. Ach, dachte ich, er glaubt wohl nicht dran! Ich fing an zu schauen, wo die anderen so ihre Probleme haben. Wie hat Beethoven in der „Missa solemnis“ mit seinem Gott gerungen! Chorgesang ist für mich keine Missionierung, sondern Auseinandersetzung.
Sie sagen öfter, die Welt wäre besser, wenn mehr Menschen sich mit Kultur und Kunst befassten. Aber auch SS-Männer schätzten Bach und Schubert, und spätestens seit MeToo ist klar, dass Künstler keine besseren Menschen sind.
Das habe ich eh nie geglaubt. Künstler tragen mitunter eine größere Verantwortung. Manchen steigt das zu Kopf und sie denken, für sie gelten keine Gesetze. Trotzdem haben Kunst und Kultur die größeren Möglichkeiten, über die Vergangenheit und ihre Lehren, über Strukturen und gesellschaftliche Strömungen nachzudenken.
Sie hat auch die Möglichkeit zu sagen, wir haben geirrt. Oder: Wir sind am Ende, es braucht etwas Neues. Ist der Wald genug besungen, sollten wir uns auf den Menschen und die Aufklärung besinnen? Ist die Harmonie durch, sollten wir die Streitkultur befördern? Davon bin ich übrigens überzeugt: Wir brauchen nicht den Streit im Sinne einer gespaltenen Gesellschaft, sondern eine Streitkultur, um weiterzukommen.
Eine Spezialität des Philharmonischen Chors seit seiner Gründung 1882 ist die Aufführung neuer oder vergessener Werke, in letzter Zeit etwa Georg Schumanns „Ruth“-Oratorium und die „Große Messe“ von Walter Braunfels. Warum ist Ihnen das wichtig?
Wegen der institutionellen Förderung sehe ich es als unsere selbstverständliche Aufgabe an, solche Werke ans Tageslicht zu bringen. Und es macht Spaß zu gucken, auf welchem Fundament die großen Komponisten stehen. Aus der Zeit zwischen 1850 und 1930 gibt es unglaublich viel gute Musik, die oft geringschätzig als Kapellmeistermusik abgetan wurde. Mich interessieren diese Leute in der zweiten Reihe hinter Brahms, Mahler oder Schönberg, es sind oft unglaubliche Entdeckungen.
Die Kunst hat die Möglichkeit zu sagen, wir haben geirrt. Oder: Ist der Wald genug besungen, sollten wir uns auf den Menschen und die Aufklärung besinnen?
Sie verlängern mit dem Ende der Saison auch Ihren Vertrag beim Brandenburgischen Staatsorchester nicht, das Sie seit 2018 geleitet haben. Gab es da Verstimmungen?
Nein, keineswegs. Ich bin jetzt 72, ich bin gesund, aber ich möchte wirklich aufhören und nicht mehr so viel beruflich – mindestens drei Abende die Woche allein für den Chor – gebunden sein. Ich konnte nie richtig abschalten. Das möchte ich ändern. Diese Zugabe in Frankfurt (Oder) von sieben Jahren war wunderbar, ich bin dankbar für die Zeit mit diesem tollen Orchester in der wunderbaren Konzerthalle, aber ich will es nicht überstrapazieren und möchte auch hier die Verantwortung nun in andere Hände geben.
Wie haben sich der Chorgesang und der Orchesterklang eigentlich verändert, seit Sie als Fünfjähriger anfingen, vor dem Plattenspieler zu dirigieren?
Es gibt eine Art Internationalisierung, vor allem beim Orchesterklang. Das Leipziger Gewandhausorchester klingt nicht mehr ganz so dunkel wie unter Kurt Masur. Und die Dresdner Staatskapelle hat immer noch ihren leichten, differenzierenden Klang, aber auch da findet eine Angleichung statt.
Meine Arbeit als Dirigent hat sich insofern verändert, als die Musiker technisch avancierter und selbstständiger sind. Heute wissen Orchester oft von sich aus ein Werk einzuordnen, man kann sofort am Klang arbeiten. Beim Chorgesang hat sich vor allem das Repertoire verändert, und speziell der Philharmonische Chor hat sein Spektrum von der Chorsinfonik bis zum A-cappella-Gesang weiterentwickelt, den er 2002 nicht so gut draufhatte. Ein work in progress: Es gibt kein Ende, sondern mit meinem Nachfolger Florian Benfer einen neuen Anfang.
Ihr letztes Konzert als Chefdirigent des Philharmonischen Chors bestreiten Sie am 1. Juni mit dem Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ von 1938. Der prekäre Aspekt: Der österreichische Komponist Franz Schmidt wurde von den Nazis hofiert.
Fred K. Priebergs sehr gute Forschung zu Musikern in der NS-Zeit ergibt zumindest, dass der Nazi-Aspekt nicht ganz so groß ist, wie man oft denkt. Ich habe das Stück erstmals 1984 in Leipzig dirigiert, mit dem phänomenalen Peter Schreier als Johannes. Seitdem bin ich von dem Oratorium nach Motiven aus der Offenbarung infiziert, auch weil Chor und Orchester zeigen können, welche unterschiedlichen Sing- und Musizierweisen sie draufhaben.
Ein sensationell komponiertes, drastisches, apokalyptisches Werk: Wenn ich bei der Planung vor zwei Jahren gewusst hätte, wie unruhig die Welt im Moment ist, hätte ich womöglich etwas Ruhigeres gewählt. Am Ende besagt das Stück allerdings, dass man auch durch das Schwierigste hindurchkommen kann. Man darf sich nur nicht hinsetzen und warten, bis es vorbei ist, sondern muss sich dem aktiv stellen.
Tagesspiegel, 22. Mai 2025