Die Demut einer Quadrupelfuge

Clemens Haustein, Berliner Zeitung

Franz Schmidt
Das Buch mit sieben Siegeln

philharmonie berlin
08. november 2015

Leitung  Jörg-Peter-Weigle

In der Philharmonie: ,Das Buch mit sieben Siegeln‘

Was ließe sich aus diesem Bibel-Text nicht alles machen! Nichts weniger als Weltuntergang wird in der Offenbarung des Johannes ja unter anderem beschrieben, der „jüngste Tag“, an dem sich die Gräber auftun und finales Gericht gehalten wird. Da hört man beim Lesen die Pauken prasseln und die Posaunen dröhnen. Jedoch kaum etwas davon bei Franz Schmidts Oratorium ,Das Buch mit sieben Siegeln‘, vollendet 1937. Ein bisschen Kontrabassgrummeln, um die Erde erbeben zu lassen, ein wenig Flötenschimmer, wenn es blitzt. Das erstaunt um so mehr, als der Wiener Schmidt in einem Umfeld lebte und wirkte, zu dem etwa auch Gustav Mahler und Richard Strauss gehörten; jahrelang diente er als Solocellist in der Wiener Hofoper dem Hofoperndirektor Mahler.

Und wie wäre der bei einem ähnlichen Thema klangmalerisch in die Vollen gegangen! Im letzten Satz der 2. Sinfonie hat Mahler es angedeutet, einer Vision vom jüngsten Gericht. Dass allerdings auch Schmidt den zuckersüßen Ton beherrscht, war kürzlich bei den Philharmonikern zu hören, als Zubin Mehta die zigeunerisch-sattklingende Zwischenmusik aus der Oper ,Notre dame‘ zur Aufführung brachte. Wiederum nichts als solcher Süßlichkeit in seinem ,Buch mit sieben Siegeln‘.

Am Sonntagabend war das Stück in der Philharmonie wieder einmal zu hören, nachdem es zuletzt vor bald 20 Jahren vom Deutschen Symphonie-Orchester aufgeführt worden war. Der Philharmonische Chor sang, die opernerprobte, fein zirpende Staatskapelle Halle spielte, Jörg-Peter Weigle dirigierte. Es wurde eine sehr feingliedrige, in den schönsten Momenten elegant schwebende, in schwächeren Momenten etwas zaghafte Aufführung. Besser so als zu viel, denkt man sich jedoch, wo Schmidt dann doch mal den kompletten Klangapparat von der Leine lässt. Etwa in jener abenteuerlich komplexen Quadrupelfuge, mit der die Öffnung des siebten und letzten Siegels besungen wird. Jedoch droht auch hier keine Entgleisung wie etwa bei Max Reger in seinem schwer sich wälzenden 100. Psalm. Fest ist der katholische Boden, auf dem sich Franz Schmidt bewegt – und das schließt klangliche Demut mit ein. Keine geringere Leistung angesichts des rätselhaften Bilderreichtums dieses Bibeltextes, der seit jeher die Fantasie des Lesers anregt.

Entscheidend sind bei Schmidt die zahlreichen Ruhepunkte, während derer der Hörer Möglichkeit hat, die Bilderflut sacken zu lassen. Beispielhaft dafür stehen die zwei Orgelzwischenspiele, die Distanz zum Geschehen schaffen und im typischen Kirchen-Sound klar machen, dass das alles auch nicht das Mindeste mit Oper zu tun haben will. Organist Michael Schönheit gibt dem sehr selbstbewusst Ausdruck. Stark ist auch Tenor Dominik Wortig, bei dessen Johannes die musikalische Tradition spürbar bleibt: in der Nachfolge des Evangelisten in den Bach’schen Passionen. Hanno Müller-Brachmann singt einen kraftvollen Gottvater. Hoffentlich müssen wir auf die nächste Aufführung diese großartigen Stücks nicht wieder 20 Jahre warten.